THESEUS:
Und wie die Phantasie Ideen ausgebiert
Von unbekannten Dingen, bannt der Stift
Des Dichters sie in Formen ein und gibt
Luftigem Nichts in Worten ein Zuhause.

HIPPOLYTA:
Bedenkt man aber diese Nachtgeschichten
Und wie die Herzen umgewandelt sind,
Dann sieht man mehr darin als Hirngespinste:
Ein Etwas, das zu großer Dauer wächst,
Ein Etwas, was es sei, schön ist’s und gut.

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Maren Krusche – Malerei

Was ereignet sich hier? Wir schauen, wir warten, wir ahnen, wir vernehmen, wir verstehen, wir erinnern, wir beginnen von vorn, von anderswo.

Was wäre, wenn  Malerei die Möglichkeit von Wahrnehmung, Reflexion, Freiheit des Sehens nicht eröffnen würde?

Dann gäbe es trotzdem Wolken, Nacht, Wind,  Pflanzen, Spiele und Gedankenspiele, Momente, Poesie, alles Getier und jegliche Dinge. Doch jedes Bild ist wie ein Aufbruch in unbekanntes Terrain. Die Erfahrungen der Welt werden zu einem Einfallstor für die Wendung des Bildes auf ein anders hin: Die Malerei ist ein Ort, an dem sich Verwandlungen nicht einfach ereignen, eher scheint die Malerei selbst im permanenten Wandel, die keinen Anfang und kein Ende kennt.

Auch die Malerei von Maren Krusche gibt zu sehen, was es sonst nicht gäbe – und das ist das Wunder der Kunst, die mit dem Erhabensten spielt, die dem Unbedeutendsten Raum gibt, die das Selbstverständlichste ignoriert, das Flüchtigste fängt, das Dunkelste zum Leuchten bringt – das nie Gewesene zeigt. Punkte purzeln aus ihren Schatten, die Schlangen waren schon da, als sie noch unsichtbar waren. Der Untergrund ist die Kraft, die alles geben – und wieder nehmen kann. Die Malerei ist der Schlummer am siebten Tag, ist das Erwachen danach, mit den Träumen dazwischen.

Zusammenhänge zu erkennen, zu nutzen, zu behaupten, zu ignorieren, oder zu bekämpfen ist unser tägliches Tun. Dabei leiten uns Muster, die vieles ausschließen und dafür schnelle Gewissheiten verschaffen, zum Beispiel jene, dass im Kopf der Kreaturen, (wenn überhaupt), gedacht wird, im Leib eher vegetiert und dass dort, wo die Beine des Nashorns entspringen oben sein muss, wo sie aufspringen unten. Letzteres, eine Gewissheit, die wir der Erkenntnis der Schwerkraft verdanken, wenden wir flugs nicht nur auf das gewichtige Nashorn an, sondern auch gleich auf unsere schwerelosen Gedanken, die wir, anstatt sie fliegen lassen, auf bekanntem Terrain, in Bodennähe vertäuen.

Maren Krusches Malerei sowie ihre Serien und Bildräume fallen aus dem Muster. Wer sich, wie sie die Freiheit nimmt, sieht das Nashorn und das Rüsseltier plötzlich schweben, gehalten von Kräften, die in einem ungeahnten, größeren, anderen Zusammenhang wirken. Und auch die immer wiederkehrenden Ringe, Kugeln, Schatten lassen sich nicht in oben und unten verorten, entziehen sich eingefleischten Relationen von Ursache und Wirkung. Selbst der Papiergrund kann sich drehen, scheint nur noch Täuschung, die auf den Grund des Sehens im Gegenüber deutet.

In offenen, wolkigen, oszillierenden Bildräumen schweben Kreise, berühren, überlagern sich: Wie am Sternenhimmel ergeben sich immer wieder neue Konstellationen, Konjunktionen, Durch-, Ab- und Übergänge. Sich selbst überraschende  Farben begegnen sich, ein Rosa, ein Blau im vibrierenden Bildgrund, werden erfahrbar in ihren subtilen Nuancen, teilen sich mit. Maren Krusches malerische Aufmerksamkeit richtet sich auf hauchdünne, fragile Grenzphänomene der Wahrnehmung, ihrer Vibration und Schwingung, auf feinste Abstufungen und Schattierungen innerhalb des Bildgrundes und in der eigentlichen Form, auf Halb- und Vierteltöne, den begriffslosen Hauch der Nuance als Bildprozess und Ergebnis.

Der Begriff Nuance hängt etymologisch mit nuage – Wolke zusammen und vielleicht ist der immer ephemere Zustand der Wolke, ihr Ziehen, ihre Verwandlung eine Verwandte des malerischen Kosmos von Maren Krusche. Wolken wie die Bilder sind Übergangsobjekte, stehen an der Schwelle zur Dingwelt, dramatisieren diese Schwelle. Ganz frei ergibt sich im bewegenden und bewegten Bildraum ein Entstehen und Vergehen der Konstellationen, ein Werden, ein Ereignis der Wahrnehmung, das an der Grenze der Sichtbarkeit passiert, das – immer wieder neu – als Ähnlichkeit im Unähnlichen eintritt, das „des eignen Bildens Kraft“[1] in sichtbaren Formen sich manifestieren lässt, im Medium zwischen Licht und Dunkel. Es ist wie eine “erste leiseste Raumerfüllung, gleichsam der erste Ansatz zu einem Körperlichen, Undurchsichtigen“, hier bildet sich die “zarteste Materie, die erste Lamelle der Körperlichkeit„.[2] Im Sichtbaren erscheinen intensive Differenzen, die Kraftgefälle, Spannungen, Turbulenzen, Schwingungen in Extensionen, in erste Anzeichen von ausgedehnten Körpern, in Farben übersetzen, die den Übergang zwischen losen und festen Kopplungen weniger untersuchen als herstellen.

Die Bilder und Bilderserien sind da wie Momente eines unaufhörlichen Wandlungsprozesses. Bildklang, Schatten, Schattierungen: Ein Bildgeschehen, ein Tanz von Formen, den der Blick aufnimmt, hinein geleitet in Balanceakte des Sehens, die Thema und Ergebnis des malerischen Werks von Maren Krusche sind. In der Erscheinung erscheint zugleich die Grenze der Darstellung, erscheinen die Risse, die Brüche in der perspektivischen Repräsentation. Maren Krusches Bilder zeigen den Übergang, das ‚Übergängliche‘,[3] das auch Gefühle, Atmosphären prägt. Der Mensch erfährt sich in den Nuancen seines Gefühlshaushalts, sagt Gottfried Böhm, „am Rande seiner Sichtbarkeit“.[4] Diese Ursprünglichkeit und Unbestimmtheit der Emotion findet ihre formale Entsprechung, ihr affektives Substrat im Bildgrund, weil erst auf ihm etwas in die Sichtbarkeit treten kann. So wie jede Fremdberührung immer auch Selbstberührung ist, so entsteht alle Form im Licht ihrer Darstellung. Das Bildlicht ist die Anwesenheit eines Emotionalen, eine sich entwickelnde Unbestimmtheit, die gerade indem es unbestimmt bleibt, Form ermöglicht. Was im Bild beleuchtet ist und leuchtet, bleibt selbst unbestimmt, wie das Weiß der Leinwand, und ist deshalb den Emotionen als Bedingung allen Erscheinens so verwandt.[5]

Maren Krusches Gemälde sind Augenblicksbilder in seltsamer Transparenz, Bilder die zu sehen geben. Es ist, als ob in und mit den Bildern ein schwebendes Verweilen stattfindet, in dem das Offenbarwerden des Bildes untrennbar mit seiner Auflösung verwoben ist. Was sichtbar wird ist die Schwelle als Membran zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Welt, Gefühl und Gedanke, Bild und Material: Die Leinwand wird zum Ort einer emotionalen Schwingung, die die rigide Opposition von Werk, Auge und Erfahrung unterminiert. Im Stoff als Textur bildet sich – im Spiel und Widerspiel – die Sphäre eines Zusammenhangs zwischen Assoziation und Vision, öffnen sich Übergänge, Durchgänge zu anderen, latenten Bildern.   Oben und unten, außen und innen, die Zeit und ihr Fluss durchdringen sich in vielschichtigen, durchlässigen, diaphanen Bildgebilden. Der visuelle Raum ist erfüllt von Intensitäten und Kräften: ein Möglichkeitsfeld, in dem Offenbarwerden  und  Auflösung der Erscheinungen untrennbar miteinander verknüpft sind, das im Geschehen des Zeigens und der Verbergung ein anderes Verstehen erst ermöglicht.  Die Bilder spielen in und mit einem Dazwischen, sie handeln von Unterbrechungen und Leerstellen, von Zäsuren, vom Ungreifbaren, von Unbesetztem. Ihr Ort ist der Zwischenraum, der im Spiel von Interaktionen und Durchblicken, im Miteinander von Werk und Betrachter jede Begegnung strukturiert. Im Ineinander von Sichtbarkeit und dem, was sich der Visualisierung entzieht, öffnet sich ein Raum der unendlichen schöpferischen Möglichkeiten, die die subtilen Verflechtungen des Bildes zwischen opus und actus entwickeln und als gleitende Bewegung Form und Inhalt balancieren und immer wieder neu entfalten. Die Passage führt in ein stetes Unterwegs, in dem die einzelnen Bilder Aufbruch und zugleich Haltepunkte in einem Netz von möglichen Bildfindungen sind.

Jedes Bild von Maren Krusche ist ein Sprung: Nicht in der Abschilderung eines Gesehenen, sondern im porösen, durchlässigen Werk, in dem die Künstlerin über sich hinaus schweift, sich den Abenteuern der Imagination, ihrem Gespür furchtlos ausliefert, entsteht das Bild – in aller Freiheit. Die Kippfiguren zwischen außen und innen und die Frage, wo sich beide berühren, führen zurück zu unserem Sein in der Welt. Hier geht es nicht um die vordergründige Wahrheit des Abbildens, nicht um Bilder der Welt oder wie immer festgefügte Vorstellungen, auch nicht um Verkörperungen von Ideen, sondern um Handlung/Haltung, um fließende Wahrheiten.

Immer schon führt das Bild, die Kunst hinaus über das Faktische und Geläufige, weg vom simplen Gegenstand, vom Vertrauten, vom Fassbaren, vom Gewöhnlichen. Der Weg der Kunst ist eine „Brücke, die vom festen Boden sich so wegwölbt, als besäße sie im Imaginären ein Widerlager.“[6] Woher kommen die Bilder? Die Inszenierung des Werkes, die Gestaltungskraft des Künstlers reicht im Fluxus des Werkes, der Farben, der Lineatur immer auch zurück hinter das nie vollständig domestizierbare und kontrollierbare Geschehen der Malerei selbst, die dann zu einem geheimnisvollen Ort wird, an dem die „Rückseite der Tat, die immer ein Widerfahrnis ist, die Kehrseite des Machens, die immer ein Empfangen ist, die Grenze des Vollzugs, die immer ein Entzug ist, der Umschlag der Macht, der als Ohnmacht erfahren wird, sich ereignen.“[7]

Wahrnehmbarmachen und Wahrnehmen stehen im Wechselspiel. Immer haben wir es mit einem Sinn zu tun, der gerade hervorgebracht wird, der soeben ans Licht kommt, der dabei ist, sich zu artikulieren. Ein solcher Sinn vermittelt sich ohne Semantik (die es noch gar nicht gibt). Er überträgt  das Wie der Konfiguration, den Prozess der Formung, die bewegende Energie. Prägnanz meint so das Ereignis einer Aktualisierung, das sich als Ermöglichendes vor jeder semantischen  Eindeutigkeit vollzieht. Und sie meint eine ganz eigenwillige Körperlichkeit.  Prägnanter Sinn übermittelt sich über ein Feld organisierter Intensitäten. Was als Zeichen oder physische Faktur eingesetzt ist, wird als bewegter Rhythmus erfahren, wird zu einem Geschehen, in dem sich Form mit Zeit, Formung mit Veränderlichkeit verbindet. [8]

Maren Krusches oft über den Bildrand hinaustanzenden Formen lassen optisches Zentrum und optische Peripherie in eins fallen in der fragilen Komplexität von Farbe und Form, das ein Gleiten zwischen Wissen und Sehen offen hält. Die rhythmische Koexistenz von gestreuten Elementen, von Wiederholungen, Reihungen, Knäueln setzt eingeübte Sehgewohnheiten außer Kraft. Es ist als ob die Zerbrechlichkeit der Welt und ihr ästhetisches Analogon sich miteinander verweben. In dieser Malerei der intensiven Neuerschaffung wird Sehen – von einem immer neuen Zentrum aus – ein freies Spiel zentrifugaler Kräfte, das Verunsicherung, Vexierung, Aspektwechsel formt und gesteht. Solche Alogiken, Unstimmigkeiten mit eigener Evidenz, setzt Maren Krusche mit aufmerksamer Behutsamkeit frei. Empfänglich für Differenzen und Unwägbarkeiten, für Kaumgesehenes, für subtile Mikrophänomene im Schatten der Aufmerksamkeit werden die Bilder zu Anlässen, um an ihnen entlang zu sehen, ihre Wunder weiterzuspinnen. Es gibt nichts zu enträtseln, zu enthüllen, vielmehr geht es um die performative Fähigkeit, die Ein-Fälle wahrzunehmen, fortzudenken, das Andere der Sprache in Gestalt von Berührungen im Materiellen, als Momente des Zueinanders zu erfahren.

Und als der Tapir die Augen aufschlägt hatte sich die Welt in flimmernde Pünktchen aufgelöst und er versuchte den Blick scharfzustellen [9]… genau so geht es auch uns mit den wundersamen Konstellationen, mit solch einem wagemutigen Zueinander von Bildbegegnungen, die Maren Krusche als wechselseitige Illumination inszeniert. Hier treffen Bilder von Dingen und Tieren auf die Wirbel von Punkten und Kreisen – in luzider und ganz eigensinniger Weise geben solche Konfigurationen die Möglichkeit einer Kontinuität zwischen Selbst und Welt, zwischen Natur und Kunst in der rhythmischen Wiederkehr ihrer Elemente, in der schockhaften Plötzlichkeit der Begegnungen. Das Unbestimmte der Bilder steht für die unbegreifbare Einheit des sich lebendig Vollziehenden, in seinem nicht nur willentlichen, subjektiven Ursprung. Es öffnet sich ein Raum des Geschehens, in dem Subjekt und Objekt nicht mehr dualistisch geschieden sind, ein Erfassen des Geschehenen durch das Geschehende. Im Sehen entfaltet sich ein Rondo von Echos und Symmetrien, von Einheit und  Nuancierung, vom Monochrom zum lebendigen Polychrom der Farbe. Im Zwischenraum zwischen Einheit und Variation, zwischen Identität und Divergenz ergibt sich ein Raum von Berührungen, im Spiel und Widerspiel von Selbst und Anderem. Dabei bleibt der Raum, das Bild offen, vage, unbestimmt und unbegrenzt, eine Vielsichtigkeit, die widersinnig genug – alle Ungenauigkeit ausschließt und doch lebendig ist. „Das Vage geht nicht mit dem Tod zusammen. Das Vage ist lebend.“[10] Die semantische Nicht-Entscheidbarkeit ist eben nicht beliebig, sondern verdankt sich der Präsenz dessen, was sich dem Bild als Vorübergehendes präzise einzeichnet.

Wir finden „Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –:finden… einen Meridian.“[11] Paul Celans Meridian als Metapher der Begegnung stellt die Bewegung vom einen zum Anderen und das Zwischen-Uns in das Zentrum der Kunst. Der vibrierende Raum und sein Dazwischen sind auch das wesentliche Thema der Arbeiten von Maren Krusche. Ihre Reihungen entfalten sich zu unerwarteter Erfahrungs- und Sehvielfalt, die uns ein Empfinden für das Ding, die Dinge gibt, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Als Schauende begegnen wir diesen Bildern und erst in dieser Begegnung wird die Energie, der Atem der Malerei reale Gegenwart. Wir tauchen ein in die Malerei, allerdings ohne sie zu kolonialisieren, sie ihrer Fremdheit zu berauben.

In jedem Sehen in jeder Lektüre geht es um eine „offen bleibende, zu keinem Ende kommende, ins Offene und Leere und Freie weisenden Frage – wir sind weit draußen.“[12] Jedes Kunstwerk sucht diesen Ort.

Dorothée Bauerle-Willert (2015)

[1] Johann Wolfgang von Goethe; Howards Ehrengedächtnis, In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1982, S. 350

[2] Johann Wolfgang von Goethe, Nachträge zur Farbenlehre, In: Goethes Sämmtliche Werke. 6. Band, Stuttgart und Tübingen 1855, S.399

[3] Johann Wolfgang von Goethe, Wohl zu merken, In: Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 1, München 1982, S. 352

[4] Vgl. Gottfried Böhm, Der Haushalt der Gefühle. Über Form und Emotion. Abendvortrag am 12. Februar 2015, im Rahmen der Tagung ‚Rückgang ins Unbestimmte an der Humboldt-Universität Berlin

[5] Vgl. ebenda

[6] Robert Musil, Gesammelte Werke, Bd. 8, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 1154

[7] Sybille Krämer, Gibt es eine Performance des Bildlichen? Reflexionen über Blickakte, In: Ludger Schwarte (Hg.) Bild Performanz . Die Kraft des Visuellen, München 2010, S. 67

[8] Vgl. Gottfried Böhm , Nichts als dies. Etude über Form und Prägnanz, In: Drehmomente, Berlin 2011, S. 4

[9] Henning Ahrens, Lauf Jäger lauf, Frankfurt am Main 2002, S. 31

[10] Roland Barthes, Cy Twombly, Berlin 1983, S. 10

[11] Paul Celan, Der Meridian, In: Büchner-Preis-Reden 1951 – 1971, mit einem Vorwort von Ernst Johann, Stuttgart 1981, S. 102

[12] ebenda, S. 99